In mir

Ich habe ein kleines Etwas verschluckt.
Ich habe geschlafen, es muss wohl im Zimmer umhergeflogen sein, ich habe es einfach verschluckt und bin darüber aufgewacht. Ganz anders wurde mir, es gluckste und schluchzte in mir, es sprang und hüpfte innwändig gegen mich, dass ich wie tanzend durchs Zimmer flog.
»Beruhige dich!«, sprach ich, dass der Bass in mir wiederhallte. Tatsächlich, es wurde still in mir. »Wer oder was bist du?«, frug ich vorsichtig in mich hinein.
»Ich bin eine kleine Muse«, lispelte es aus mir heraus.
»Aha …«, sagte ich und: »… was auch sonst – ist ja das Nomalste auf der Welt.« dachte ich.
»Hm, bist du soweit in Ordnung?«, erkundigte ich mich besorgt.
»Naja, es ist dunkel und ich finde mich nicht zurecht … ich habe ein wenig Angst.«
»Du musst keine Angst haben, auch wenn ich dir aus deiner Sicht als finst‘rer Geselle erscheinen mag, scheint mir doch sonst die Sonne aus dem A… ach nicht so wichtig.«
Es musste ein göttliches Bild abgegeben haben, ich stand mitten im Zimmer und redete mit meinem Bauch, eigentlich mit dem Darin, welches so leise redete, dass ich es selbst gerade noch verstehen konnte.
»Bist du wenigstens eine Dichtermuse?« – »Ja, das bin ich.«
»Na Prima.«, stellte ich fest: »Einmal im Leben verirrt sich eine richtige Muse in mein bescheidenes Heim, und statt dass sie mich küsst verschlucke ich sie. Mein Leben muss sich heute mal wieder verdammt witzig vorkommen.«
»Und nun? Willst du einen Tee?«, frug ich mit einem provozierenden Lächeln in der Stimme.
–  »Untersteh dich!«, schrillte es aus mir heraus, woraufhin ich recht herzhaft lachen musste, was es für das arme Ding in mir bestimmt nicht einfacher machte.
»Nun, wenn du in mich hineingekommen bist, so musst du auch irgendwie wieder herauskommen. Ich weiß nur nicht wie.«
–  »Entschuldige bitte, dass ich dir so viele Umstände mache.«, gluckste es traurig aus mir heraus: »aber ich bin noch nicht so erfahren als Muse. Ich soll ja nur küssen oder mich in die Ohren von Dichtern setzen und ihnen schöne Dinge einflüstern. Aber ich war neugierig, da glitzerte etwas in deinem Mund, ich flog hin und schwups sog es mich ein und ich wurde von dir verschluckt.«
»Das was da glitzerte war mein Zungenpiercing.«, sagte ich und: «Meine Eltern haben mich gewarnt.«, ergänzte ich ironisch in Gedanken.
Die kleine Muse war in mir gefangen, gefangen zwischen Würgereiz und einem Weg, den man niemandem, schon gar nicht einer Muse zumuten möchte. Aber sie hatte sich beruhigt und trotz der ungewöhnlichen Situation kamen wir ins Plaudern, unterhielten uns über ihre Arbeit als Muse und meine Arbeit als Autor, wir scherzten und lachten, dass es mitunter anmutete, als sei es vollkommen normal, dass da etwas in mir ist.
Alles bis zu diesem Moment, der mir, wenn ich heute noch daran denke, einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen lässt.
–  »Ich löse mich auf.«, klang es weinerlich aus mir heraus.
Kein Wunder, wohl ist in meiner Nähe ein guter Platz für Musen, nicht aber in mir.
 »Ich … löse … mich … auf!«, kaum noch hörbar, sonderbar verzerrt vernahm ich diese Worte.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll.«, sprach ich zu meinem Bauch und zuckte mit den Schultern, was die arme kleine Muse in mir natürlich nicht sehen konnte.
Auf meine Hilflosigkeit kam keine Antwort, es war erschreckend still in mir, nichts, rein gar nichts. Nur ab und an ein Glucksen wie nach einer Portion Sauerkraut.
»Hallo?« … »Kleine Muse?« – nichts … Stille.
»Hallo?« … »Sag doch etwas!« – nichts … Stille.
Es war einfach nur ganz still: in meinem Bauch, im Zimmer, überall. Mir schien die ganze Welt, als hätte sie einfach nur aufgehört sich in der Zeit vorwärtszubewegen, alles war still und alles stand still.
Traurigkeit übermannte mich, jegliche Kommunikation mit der kleinen Muse war abgebrochen, ich wähnte sie tot.
Betrübt, der kurzen Zeit mit einer – meiner – Muse gedenkend, gab ich mich schwerer Musik und einer Flasche Wein hin – zelebrierte am selben Abend meine Trauer und als die Kerzen auf dem Tisch in die Breite wuchsen schlief ich ein.
Tagelang ging ich durch den herbstlichen Park spazieren – Wehmut im Herzen und Leere im Kopf. Ich hatte keine Lust mehr auf Dichterei. Der Computer blieb aus, der Füller fest verschlossen. Der Herbst und das mit ihm aufkommende regnerisch-trübe Wetter taten Ihr übriges zu meiner Weltschmerzstimmung in die ich mehr und mehr versank.

Der Winter kam mit viel Schnee und viel Arbeit – Termine, Treffen, Hände schütteln, Telephonate führen und, und, und.

Der Frühling zog mit ersten zaghaften Sonnenstrahlen ein, die Aufträge waren abgearbeitet, ich hatte wieder freie Minuten und Stunden für mich. Die vergangene Zeit hatte meine Wunden fast heilen lassen, besser gesagt, war der Schmerz ob meines Verlustes gelindert, nicht verschwunden.
Ich ging in den Park. Irgendwann, irgendwo setzte ich mich auf eine Bank und ließ mir die Sonne ins Gesicht scheinen. Wie gewohnt legte ich mir mein Notizbuch auf die Knie, den Füllfederhalter quer darauf – ein ritualisierter Vorgang wenn ich zur Entspannung in den Park gehe. Ich schlug eine Seite auf, schraubte die Kappe vom Füller, setzte vorsichtig die Feder auf das Papier. Vor meinen Augen flimmerte es, es glitzerte und funkelte dicht über dem Papier. Die Feder schrieb Buchstaben, Silben, Wörter, Sätze. Wie in Trance füllte sich Seite um Seite.
Meine Muse floss aus mir heraus, sie war in den Worten, die auf dem Papier durch mich herniedergeschrieben wurden. Ich spürte sie wieder in mir, als hätte sie nur geschlafen und sei durch des Frühlings erste Sonnenstrahlen geweckt worden. Ich spürte sie, sie war in meinen Adern, war die Luft in meinen Lungen, war der Rhythmus des Schlagens meines Herzens, sie war das wohlige Gefühl in mir, sie war in meinem Kopf, in meinen Gedanken. Ich schrieb und schrieb: Sonette, Balladen, Stanzen, Geschichten – alles. Einfach alles kam so tief aus meinem Inneren, wie aus einem niemals versiegenden Quell.
Und bis auf den heutigen Tag ist meine kleine Muse in allem, was ich auf das Papier bringe, als wolle sie mir damit sagen: »Ich lebe und ich bin da für dich, ich bin immer für dich da«.

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